Der west­li­che Über­wa­chungs­staat und der tür­ki­sche Repres­si­ons­staat: unse­re Mit­ver­ant­wor­tung

Aus­zug aus den Nach­denk­sei­ten vom 19.07.2013

Tür­kei: Erneut bru­ta­ler Poli­zei­ein­satz gegen Demos
In Anka­ra bit­ten die Men­schen um die Hil­fe von Not­ärz­ten. Poli­zis­ten schie­ßen Trä­nen­gas auch in die Knei­pen von Istan­bul. Zivi­le Schlä­ger im Diens­te der Staats­macht machen Jagd auf Oppo­si­tio­nel­le. Istan­bul und Anka­ra sowie Eski­se­hir im Wes­ten und Antak­ya im Süden der Tür­kei erleb­ten am Wochen­en­de erneut hef­ti­ge Sze­nen ent­fes­sel­ter Poli­zei­ge­walt gegen regie­rungs­kri­ti­sche Demons­tran­ten. Anlass für die Demons­tra­tio­nen der Gezi­park-Bewe­gung waren die Fest­nah­men füh­ren­der Mit­glie­der der Tak­sim-Platt­form Bür­ger­be­we­gung und die Beer­di­gung des ver­stor­be­nen Demons­tran­ten Ali Ismail Kork­maz. Es gibt Video­auf­nah­men, auf denen zu sehen ist, wie Ali Kork­maz zwi­schen eine Poli­zei­ket­te und zivi­le Schlä­ger geriet, von denen man bis heu­te nicht weiß, ob es sich um Zivil­po­li­zei oder isla­mis­ti­sche Unter­stüt­zer Erdo­gans gehan­delt hat. Bil­der aus einer Hotel­ka­me­ra, die den Sach­ver­halt hät­ten klä­ren kön­nen, sind angeb­lich ver­lo­ren gegan­gen. Ali Kork­maz ist der fünf­te Mann, der im Zuge der Gezi-Demons­tra­tio­nen getö­tet wur­de. Zivi­le Schlä­ger tau­chen jetzt immer häu­fi­ger bei Demons­tra­tio­nen auf, so auch wie­der am Sams­tag. Mit Mes­sern und Knüp­peln bewaff­net gin­gen sie auf Demons­tran­ten los. Die Poli­zei lässt sie gewäh­ren, was selbst die dem reli­giö­sen Lager zuge­hö­ren­de Zei­tung Sun­days Zaman befürch­ten lässt, dass die Tür­kei zu den 90er Jah­ren zurück­keh­ren könn­te, als der Staat sich im Krieg gegen die PKK kri­mi­nel­ler Mafio­si bedien­te, um PKK-Leu­te zu töten.
(Quel­le: taz vom 15.07.2013: Erneut bru­ta­ler Poli­zei­ein­satz gegen Demos)

Sie­he auch: taz vom 15.07.2013: Mehr als nur ein Schlag ins Gesicht
Kom­men­tar Orlan­do Pascheit von den Nach­denk­sei­ten vom 19.07.2013: Ja, in der Tür­kei wird noch demons­triert. Aber anschei­nend sind die ägyp­ti­schen Toten zur­zeit inter­es­san­ter als die tür­ki­schen – geschwei­ge denn die syri­schen oder die ira­ki­schen usw. Und über allem steht Prism I und II. – Bei aller Empö­rung über das Aus­maß der Aus­spä­hung der Bür­ger und den damit ver­bun­de­nen mög­li­chen Ein­grif­fen in ihr Leben soll­te unse­re Empö­rung viel­leicht auch unse­rer Hilf­lo­sig­keit zu Gescheh­nis­sen in den genann­ten Län­dern gel­ten. Sie erfah­ren gera­de an Leib und Leben, was sich in unse­ren Zonen zumin­dest zur­zeit nicht abspie­len kann. Sind wir wirk­lich hilf­los? Sind wir schuld­los? Und wor­in bestün­de die­se Schuld? Der Ana­ly­se und Auf­ar­bei­tung unse­rer Mit­ver­ant­wor­tung wäre viel­leicht damit gedient, dass wir zunächst ver­such­ten, uns ein­zu­füh­len in das gemein­sa­me Huma­n­um. Die “Unfä­hig­keit zu trau­ern” betrifft nicht nur die NS-Zeit. Aber viel­leicht ist unser Mit­ge­fühl über­for­dert, wenn wir die vie­len, mas­si­ven und lau­fend statt­fin­den­den Men­sch­rechts­ver­let­zun­gen rea­li­sie­ren sol­len. – Im Übri­gen tref­fen sich der west­li­che Über­wa­chungs­staat und der tür­ki­sche Repres­si­ons­staat in einem Punkt: Alles dient der Ter­ror­be­kämp­fung. Man muss nur die Deu­tungs­ho­heit über den Begriff Ter­ror haben, was auch für uns ein­mal aktu­ell wer­den könn­te. Die tür­ki­sche Poli­zei hat nun die Fahn­dung nach den angeb­li­chen Rädels­füh­rern der Pro­test­be­we­gung inten­si­viert. In den letz­ten Tagen haben Anti-Ter­ror-Ein­hei­ten Pri­vat­woh­nun­gen sowie Schü­ler- und Stu­den­ten­wohn­hei­me durch­sucht und meh­re­re Dut­zend Per­so­nen fest­ge­nom­men. Mit Ver­weis auf die Anti-Ter­ror-Geset­ze sei den Fest­ge­nom­me­nen recht­li­cher Bei­stand ver­wei­gert wor­den, erklär­te die Istan­bu­ler Anwalts­ver­ei­ni­gung.